Simson

 

Familie Dr. Walther von Simson – Schicksal einer Schlachtenseer Familie 

Die Landhauskolonie Schlachtensee war zwar nicht als Villenkolonie für die „gehobenen Kreise“ konzipiert worden, dennoch siedelten sich im Laufe der Jahre nach 1900 eine Reihe von Persönlichkeiten mit ihren Familien hier an, die zumindest für die Stadt Berlin, aber häufig auch für ganz Deutschland von besonderer Bedeutung waren. Viele von ihnen hatten jüdische Wurzeln, waren aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zum christlichen Glauben konvertiert oder hatten sich von einer religiösen Bindung weit entfernt und waren in ihrem Bewusstsein und ihren Handlungen vor allem „gute Deutsche“, national und kaisertreu gesinnt.

Zu diesen Familien zählten z.B. die Strassmanns. Der weltbekannte Gerichtsmediziner Fritz Strassmann (1858 – 1940) wohnte in der Ahrenshooper Zeile[1], sein Cousin war der Gynäkologe Paul Strassmann (1866 – 1938), sein Onkel war der Berliner Ehrenbürger Ferdinand Strassmann (1838 – 1931), der als Mediziner sich kommunalpolitisch engagierte und zum Stadtrat gewählt worden war. Ernst Strassmann (1897 – 1958), Landgerichtsrat und später Vorstand der BEWAG, war ein weiterer Vertreter dieser für Berlin so wichtigen Familie, der in der Nazizeit den bürgerlichen Widerstand unterstützte.

In Schlachtensee ließen sich auch die mit einander verwandten Familien Reimer und Wolff auf zwei benachbarten Grundstücken in der heutigen Lindenthaler Allee nieder. Der Berliner Rechtsanwalt und Notar Dr. Ernst Wolff (1877 – 1959) ließ das Haus für die Familie dort 1908 erbauen, er war ein Neffe des Juristen August von Simson (1837 – 1929) und, wie dieser, jahrelang Vorsitzender der Berliner Anwaltskammer. 1939 musste er mit seiner Familie schließlich nach England emigrieren, kehrte nach der Nazizeit nach Deutschland zurück und wurde Präsident des Obersten Gerichtshofes für die Britische Besatzungszone. Zu der Familie Wolff gehörte auch der spätere Richter am Bundesverfassungsgericht Bernhard Wolff (1886 – 1966), ein Bruder von Ernst Wolff.

Die o.g. Schlachtenseer Familien Reimer und Wolff waren nicht nur selber stadtweit bekannt, sie hatten auch einen gemeinsamen berühmten Vorfahren. Der Großvater der Geschwister Else Reimer und Ernst Wolff war Eduard von Simson(1810 – 1899), der erste Präsident des Reichsgerichts.

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Und der Name der Familie von Simson gehört auch direkt zu Schlachtensee. Ein Ur-Enkel von Eduard von Simson war Dr. Walther von Simson (1899 – 1943), der sich auf dem hinteren Teil des Grundstücks der Familie Reimer 1930 in der heutigen Gilgestraße das Haus für seine Familie bauen ließ. Sein Nachbar wurde dort  Ernst Wolff, für den auf dem hinteren Teil seines Grundstücks an der Lindenthaler Allee später auch ein Haus gebaut wurde.

Seine Eltern waren Georg von Simson (1869 – 1939), ein Cousin von Ernst Wolff, und Clara Eckhoff (1873 – 1964). Der Vater war u.a. Bankdirektor und Mitglied in zahlreichen Aufsichtsräten. Das Leben der Eltern und Großeltern wird in den Erinnerungen des Bruders von Georg von Simson später so beschrieben: „In meinen frühesten Lebensjahren, in denen mein Vater Direktor der Potsdam-Magdeburger Bahn war, wurde sogar eine Treppe an den Wagen gesetzt und ein roter Teppich über den Perron … gerollt, wenn wir reisten. …. Wer zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland als Mitglied einer angesehenen und einigermassen wohlhabenden Familie lebte, der befand sich in einer Lage, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Ich will damit nichts zur Verteidigung der damaligen Zustände sagen, sondern eben nur feststellen, dass die privilegierten Klassen in einer Ruhe und Behaglichkeit lebten, die inzwischen für alle aus der Welt verschwunden ist.“[2]

Walther von Simson besuchte in Berlin das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, an dem er 1916 das ‘Notabitur’ gemacht hat, weil er sich – wie so viele Jugendliche damals – als Kriegsfreiwilliger melden wollte. Studiert hat er dann nach dem Krieg, von 1919 bis 1921 in Berlin und zwischendurch (1 oder 2 Semester) in Freiburg. 1924 wurde er zum Gerichtsassessor ernannt, vorher hatte er schon promoviert. Er arbeitete dann als Rechtsanwalt, zuerst auch bei August von Simson, seinem Großvater. Zusammen mit Ernst Wolff betrieb er später eine eigene angesehene Kanzlei u.a.am Pariser Platz und Unter den Linden. Ernst Wolff war in jener Zeit einer der angesehensten Rechtsanwälte in Berlin und war spezialisiert auf privatrechtliche Folgen des Pariser Vertrages.[3]
Walther von Simson hat auch in diesem Bereich gearbeitet und u.a. 1929 einen Quellenband dazu mitherausgegeben.[4] In der Kanzlei Simson/Wolff waren eine Reihe bekannter Namen Referendare oder Sozii.

Kanzleistempel

(c) http://www.porto-club.de/Simson-Martin-Eduard-von.htm

Als Referendare waren dort z.B. die späteren Staatssekretäre Walter Strauß und Walter Hallstein sowie der spätere Lufthansa Justiziar Klaus Bonhoeffer3 und Adam von Trott zu Solz[5] tätig. Sozius soll zeitweise auch James Graf von Moltke[6] gewesen sein, der auch Anwalt für Völkerrecht und internationales Privatrecht gewesen war. Es kann also als sicher angenommen werden, dass Walther von Simson auch später noch Kontakte zu diesen Männern des 20. Juli hatte. Durch die Nachbarschaft in Schlachtensee mit Cäsar von Hofacker kam ab 1940 noch ein weiterer dazu. Ob er allerdings von den Umsturzplänen etwas wusste oder gar in irgendeiner Weise einbezogen war, ist nicht bekannt und durch den frühen Tod im März 1943 auch eher unwahrscheinlich.

Neben seiner Arbeit als Jurist engagierte sich Walther von Simson auch stark für die deutsch-englische Zusammenarbeit und Verständigung, was durch seine Aufenthalte in England, die dortige Verwandtschaft und vermutlich auch durch seinen Onkel Ernst von Simson (1876 -1941) angestoßen worden war, der als Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes 1920 das Protokoll der Ratifikation des Versailler Vertrages unterschreiben musste. 1921/1922 war er Staatssekretär im Auswärtigen Amt und nahm in dieser Funktion 1921 an der Londoner Konferenz sowie 1922 an der Konferenz von Genua und an den Verhandlungen teil, die zum Vertrag von Rapallo führten.

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(c) Karlsruhe 2013, Gesellschaft für Kulturhistorische Dokumentation,
ISBN: 978-3922596936

Nachdem er aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war, engagierte sich Ernst von Simson u.a. in dem 1926 gegründeten deutsch-französischen Studienkomitee, das sich vor allem um Kontakte zwischen den Menschen in beiden Ländern kümmerte. Der Sohn von Walther von Simson berichtete in einem nicht veröffentlichten Vortrag im Familienkreis dazu:

„Es lässt sich gut denken, dass mein politisch anscheinend lebhaft interessierter Vater schon in den Jahren davor [=1926] durch Gespräche mit seinem Onkel inspiriert wurde, etwas Ähnliches für das Verhältnis zwischen Deutschland und England zu versuchen, und dass dies der Grund dafür war, dass er sich als junger und jungverheirateter Gerichtsassessor 1924 als Referent an die Londoner Geschäftsstelle der Deutschen Staatsvertretung am Deutsch–‐englischen Gemischten Schiedsgerichtshof versetzen ließ – ohne Gehalt, wohlgemerkt, denn eine Planstelle stand dort für ihn nicht zur Verfügung.“

Walther von Simson war jedenfalls in Deutschland der Initiator der „Deutsch-Englischen-Vereinigung“, die 1929 gegründet wurde[7]. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben Walther von Simson, die Reichstagsmitglieder Dr. Kalle (DVP), Dr. Brüning (Zentrum), Herr von Lindeiner-Wildau (KartellVerband), dazu Graf Gottfried Bismarck (NSDAP) und Dr. Ernst Wolff.

Eine parallele Vereinigung war auch in England gegründet worden. Sie hatten jeweils nur wenige, dafür aber einflussreiche Mitglieder. In Deutschland waren es 78, davon 24 Reichstagsmitglieder (7 DVP, 5 DNVP, 3 Zentrum, 2 SPD, 2 NSDAP u.a.). Unter den Mitgliedern waren drei ehemalige und ein zukünftiger Reichskanzler[8]. Wilhelm Cuno (Reichskanzler von 1922 – 1923) übernahm die Präsidentschaft. Das Ende der Vereinigung kam mit der Machtergreifung der Nazis und der Gründung einer Konkurrenzgesellschaft unter Außenminister Ribbentropp 1935. Die „Deutsch-Englische Vereinigung“ löste sich auf.[9]

Walther von Simson hatte 1924 Clara Franziska von Forckenbeck (1901 – 1943) geheiratet, sie hatten zusammen drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, der 1933 geboren wurde.

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(c) Privatbesitz

Seit 1931 lebten sie in ihrem neuen, von dem damals noch jungen Architekten Eckart Muthesius entworfenen Haus in Schlachtensee. Mit der Machtübernahme durch die Nazis 1933 begann die schrittweise Verschärfung der Lebens- und Arbeitssituation für die Familien Wolff und von Simson, die dann 1939 zur Emigration von Ernst Wolff führte. Walther von Simson führte so gut als möglich seine Kanzlei weiter, musste aber mehrfach umziehen und hatte zum Schluss seine Büroräume in der Keithstraße in Schöneberg, was im Vergleich zum Pariser Platz den eingetretenen Verlust der gesellschaftlichen Stellung verdeutlicht.

Auch wenn der Urgroßvater Eduard von Simson schon 1823 zum Protestantismus übergetreten war, lebte Walther von Simson durch die vielen verwandtschaftlichen Beziehungen zu –nach der Nazi-Terminologie- jüdischen Verwandten und Bekannten immer in einer Bedrohungssituation. Dies hielt ihn aber keineswegs davon ab, sich sehr stark in der Bekennenden Kirche zu engagieren. Der Sohn beschreibt in einer privaten Mail seinen Vater mit den Worten: „Ich habe meinen Vater als heiteren, humorvollen, immer zu Scherzen aufgelegten und keineswegs strengen Vater in Erinnerung. Gewiss hatte er theologische Interessen – er hatte schon in der Schulzeit neben Altgriechisch auch Hebräisch gelernt und in seiner Jugend, so hieß es, ernsthaft erwogen, Pfarrer zu werden; aber sein Engagement in den Bibelkreisen der Bekennenden Kirche ist wohl vor allem auf die bedrückenden Zeitumstände zurückzuführen. Auf diese Weise bot sich ihm die Möglichkeit, in einem politisch unbelasteten Refugium auf eine ihm sinnvoll scheinende Weise für seine Mitmenschen tätig zu werden.“[10]

Er und seine Frau waren sehr angesehene Mitglieder der Schlachtenseer Bekenntnis-Gemeinde. Er war Mitglied im Gemeindebruderrat und wohl zugleich auch Mitglied oder Mitarbeiter im Landesbruderrat. In einer Auflistung von Hermann Ehlers[11] von 1946 wird jedenfalls sein Name im Zusammenhang der verstorbenen Mitglieder der Notorgane der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), vor allem aus den Landesbruderräten, genannt.

Im Haus von Simson fand auch ein Hausbibelkreis[12] statt. Helmuth Linke, Gemeindepfarrer in Schlachtensee ab 1947, berichtete davon in seiner Gemeindechronik[13] und Walther von Simson erzählte davon in Briefen. Am 6. April 1942 schreibt er z.B.: „Der Donnerstag Abend war recht hübsch bei guter Beteiligung. Auch Frau Frentzel war dabei, die jetzt einen Kurs bei v. K. angefangen hat und sehr angetan von ihm ist.“ und am 24. Juli 1942: „Montag ist eine Agape in Zehlendorf, Mittwoch habe ich Bibelkreis, weil ich Donnerstag nach Schwerin i. M. muß.“[14] Welche weiteren Rollen er im Rahmen der BK hatte, ist nicht bekannt. In den Akten fand sich aber eine Karte vom 10.12.1938 von Pfarrer Wiese (Nikolassee), in der er anfragte, „ob Ihnen mein Besuch in den nächsten Tagen angenehm wäre. Mein Anliegen ist Ihnen ja bekannt. Ihre Überweisung könnte gern auf mein Postscheckkonto Berlin 416 00 erfolgen.“[15] Da Pfr. Wiese der „Kassenwart“ der Berliner BK war und der Hinweis auf das Postscheckkonto lassen vermuten, dass es sich bei dem Besuch um die geldliche Unterstützung der BK durch Walther von Simson ging.

Der plötzliche Bombentod der Familie von Simson am 1. März 1943 erschütterte die Schlachtenseer Gemeinde sehr. Der Bombenangriff am 1. März1943 galt wohl vor allem dem ca. 1km entfernten Lager des Oberkommandos des Heeres an der Benschallee. Dort wurden bei diesem Angriff mehr als 2/3 der Bürobaracken zerstört[16]. Evtl. auf dem Rückflug wurden dann auch Bomben über mehreren Häusern im damaligen Böckelweg abgeworfen. Das Haus der Familie von Simson wurde vollständig zerstört und die Familie verschüttet. Nachbarn aus der Umgebung, u.a. auch die Familie von Hofacker aus der benachbarten Niklasstraße versuchten die Verschütteten zu befreien, was bei einer der Töchter gelang. Der Sohn überlebte den Angriff, weil er zu der Zeit bei Freunden der Familie in Ostpreußen war.

Der Bruderrat der Schlachtenseer Bekenntnisgemeinde lud mit einer Karte die Gemeinde ein[17], an der Beerdigung in dem Familiengrab auf dem Friedhof Belle-Alliance-Str. (Jerusalem Friedhof III, Mehringdamm) teilzunehmen und auch an dem darauffolgenden Sonntag an der Trauerfeier in der Johanneskirche.

Karte Trauerfeier Dr. von Simson

(c) Ev.LandesArchivBerlin 10909/2/615

Die Predigt bei der Trauerfeier in der Johanneskirche hielt Pfr. Wiese aus Nikolassee, der Walther von Simson aus der gemeinsamen Arbeit in der BK kannte. Er ging anfangs auch auf die große Erschütterung und Fragen in der Gemeinde ein: „Und nun hat Gott der Herr nicht das Haus irgend eines Betrügers oder Lästerers, sondern das Haus seines Knechtes zertrümmert und ihn mit den Seinigen jäh aus seinem Leben und Wirken herausgerissen.“ Wer mit den Betrügern und Lästerern gemeint war, wusste die Gemeinde bei den vielen Nazi-Größen in den Häusern in der Umgebung der Kirche nur zu gut.

Er sprach dann auch von der neuen großen Bedeutung die den „Laien“ in der Bekennenden Kirche zukommt: „In unserem Bruder von Simson war uns ein solcher Mann, ein solcher kirchlicher Laie geschenkt. Hier in Schlachtensee war unter seiner Leitung das Werden einer Christengemeinde unter dem Worte Gottes als einer Lebensgemeinschaft im Gang.“[18]  Mit dem Hinweis auf das Werden der Gemeinde zu einer Lebensgemeinschaft spricht Pfr. Wiese die Bemühungen von Dr. Walther von Simson an, im Zehlendorfer Gemeindehaus die Gemeinde zu Abendmahlsfeiern in Form der früh-christlichen Liebesmalfeiern („Agape“)[19] zusammenzubringen und als Lebensgemeinschaft zu festigen, von der auch schon Walther von Simson in seinem o.g. Brief gesprochen hatte.

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(c) Privatbesitz

In den Jahren vorher war zwischen den Familien von Simson und von Hofacker eine enge Freundschaft entstanden, ganz besonders intensiv zwischen den Töchtern der Familien. Sie gingen zusammen auf die Lehweß-Schule in der Von-Luck-Straße, sie nahmen gemeinsam Reitstunden

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(c) Privatbesitz

und gingen auch zusammen zum Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Wiese in Nikolassee. Die Familie von Simson mied vermutlich den Schlachtenseer Pfarrer wg. seiner NSDAP-Mitgliedschaft.

Die Familien haben auch häufiger gemeinsam ihre Ferien in Krottenmühl am Simssee in Oberbayern verbracht, wo die Familie Hofacker ein kleines Ferienhaus, das „Zuhäusl“, neben einer alten Mühle gemietet hatte. Nach dem Bombenangriff vom 1.3.1943 verließ die Familie Hofacker schon am 4.3. Berlin, um in Krottenmühl Schutz vor weiteren Bombenangriffen zu finden. Diese Tage des Abschieds beschreibt die Enkelin von Cäsar von Hofacker so:

„Anders als in den beiden vorangegangenen Jahren verbringen Hofackers den Winter 1942/43 in ihrem Zehlendorfer Haus in der Hauptstadt – genau wie Simsons auch. Die alliierten Luftangriffe haben sich als weniger dramatisch erwiesen als befürchtet und die Westberliner Randbezirke waren bisher kaum davon betroffen. Auch reist Cäsar von Hofacker öfter von Paris aus nach Berlin und kann die Familie hier viel häufiger sehen als im Allgäu. Ännerle [Anna-Luise von Hofacker] ist es sehr recht gewesen. Als eher untalentierte Skifahrerin langweilen sie die langen Wintermonate in Oberjoch ohne ihre Freundin. Lieber geht sie mit Felicitas [von Simson] auf die private Lehwess-Schule, die jetzt »Schule am Föhrenwald« heißt. Auch nachmittags sind die Mädchen unzertrennlich, gehen zusammen zum Reitunterricht oder zum Zahnarzt, um ihre Zahnspangen nachstellen zu lassen.

Am 1. März 1943 trennen sich die Freundinnen nachmittags auf dem Rückweg von der Schule. Es ist ein Montag, bis zu den Osterferien dauert es noch etwas, doch Simsons wollen am nächsten Tag wieder nach Krottenmühl umsiedeln, denn die Luftangriffe auf Berlin nehmen zu. Die Mädchen verabre­den sich noch einmal für den nächsten Morgen. Dann aber ertönt abends Fliegeralarm: eine durchdringende Sirene mit dem typischen auf- und abfallenden Signalton. Über den Rundfunk werden die Berliner zusätzlich gewarnt: Starke Verbände im Anflug auf die Reichshauptstadt. Ohne große Hast und Sorge nehmen Hofackers das fertig gepackte Notköfferchen mit in den Luftschutzkeller und warten auf das durchgezogene eintönige Entwarnungssignal. Doch dieser Angriff ist anders: Eine halbe Stunde später erschüttert eine ohrenbetäubende Detonation ganz in der Nähe das Haus und lässt alle angstvoll zusammenschrecken. Der Bombenkrieg hat auch Zehlendorf erreicht.

Als Lotte von Hofacker später Freunde und Verwandte abtelefoniert, um sich zu vergewissern, dass niemandem etwas passiert ist, klingelt bei Simsons das Telefon zwar ganz normal, doch keiner nimmt ab. Beunruhigt ziehen Mutter und Tochter los um nachzusehen. Auf der anderen Seite der Chamberlainstraße steht ein Haus in lodernden Flammen. Ännerle kann den Blick gar nicht abwenden, als sie hinter ihrer Mutter zur Ecke Böckelweg geht, wo sie morgens auf dem Weg zur Schule immer auf Felicitas wartet. Schließlich dreht sie sich zum Haus ihrer Freundin um: Die Adresse Böckelweg 7 gibt es nicht mehr. Eine Luftmine hat das große Backsteinhaus getroffen, ein riesiger Schutthaufen ist alles, was davon übrig geblieben ist.

Felicitas und ihre Eltern können nur tot aus den Trümmern geborgen werden. Doch das erfährt Ännerle erst einige Tage später in Krottenmühl. Schon am 4. März flieht Lotte mit den Kindern vor den Bombenangriffen nach Bayern in das Zuhäusl am See, das zu klein, ohne Bad und auch sonst recht spartanisch ist – eigentlich nur ein Sommerquartier. Die Kinder stört das wenig.

Vielmehr lastet auf der 13 Jahre alten Ännerle der Verlust der Freundin. Jeden Schritt waren sie hier im vergangenen Sommer gemeinsam gegangen, sie fehlt auf dem langen Schulweg nach Rosenheim, in der nach wie vor fremden Klasse, zu Hause auf dem großen Mühlengrundstück am See, beim Baden, beim gemeinsamen Spiel mit den anderen Kindern – überall wird sie an Felicitas erinnert. Lotte macht sich große Sorgen um ihre Älteste, die immer wieder in melancholische Traurigkeit versinkt und heimlich Gedichte voller Todessehnsucht schreibt. …

Es fällt ihr leichter, über ihren Kummer zu schreiben als zu sprechen. Während sie sich zu Hause eher verschließt, findet sie einen ganz neuen Zugang zu ihrem Vater und gibt ihm in langen Briefen nach Paris Einblick in ihre wunde Seele. Er nimmt sie sehr ernst, vor allem auch die teilweise selbstzer­störerischen Gedanken des plötzlich frühreifen 13-jährigen Mädchens. ….

Zahlreiche Briefe wechseln zwischen Krottenmühl und Paris, in denen die Kinder nicht nur von tiefem Kummer, sondern auch von ihrem Alltagsleben erzählen und der Vater ihnen zwischen harmlosen Berichten aus Paris seine ureigenen Wertvorstellungen fürs Leben mitgeben kann. Die ganze Tragweite dieser Korrespondenz erschließt sich Ännerle erst nach dem Tod des Vaters, der nach fünfmonatiger Einzelhaft hingerichtet wurde, ohne ein einziges Abschiedswort den Seinen hinterlassen zu dürfen.“ [20]

 

In diesem Briefwechsel stößt die Tochter bei dem Vater auch ein neues Nachdenken über seinen eigenen Glauben an, der in den Jahren davor sehr in den Hintergrund getreten war[21]. Cäsar von Hofacker war in seiner Studentenzeit sehr aktiv in nationalistisch-reaktionären Kreisen, wurde dann Prokurist bei den Vereinigten Stahlwerken und ab 1939 Reserveoffizier der Wehrmacht. Er gehörte anfänglich zu den Unterstützern der Nazis, schloss sich später aber dem militärischen Widerstand um Graf von Stauffenberg, seinem Vetter, an und wurde Mitglied des Stabes von General von Stülpnagel in Paris. Am 20.Juli 1944 leitete er den Umsturzversuch in Paris. Er wurde verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 20.12.1944 in Plötzensee hingerichtet.[22] Sein Sohn, Alfred von Hofacker, wurde zusammen mit zwei Schwestern und anderen Kindern der Widerständler des 20. Juli in ein Kinderheim bei Bad Sachsa verschleppt, wo sie die NS-Zeit überlebten. Seine Mutter, Ilse-Lotte, und die beiden ältesten der fünf Kinder, Eberhard und Anna-Louise, saßen seit dem 30. Juli im KZ; zunächst in Stutthof, dann in Buchenwald und schließlich in Dachau, wo sie befreit wurden.[23] Die Enkeltochter von Cäsar von Hofacker hat 2017 ein sehr berührendes Buch über das Schicksal der Kinder der Verschwörer des 20.Juli unter dem Titel: Geisterkinder herausgegeben.21

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[1] Weiteres dazu siehe: Dirk Jordan, Bekenntnisgemeinde und Nazi-Refugium, Schlachtensee 1933 – 1945, Berlin 2016, S. 41
[2] Zitiert aus: Ernst von Simson, Erinnerungen, Herausgegeben von Georg und Siguna von Simson, Jonas’sche Familienstiftung, 2009, S. 32 und 46 (nicht veröffentlicht)
[3] Siehe dazu auch: Friedemann Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker Der Staatssekretär Walter Strauß und sein Staat, Tübingen 2003 (J.C.B. Mohr), S. 20  (Strauß war in der Kanzlei von Simson/Wolff  Referendar gewesen.)
[4] Die Quellen des internationalen Privatrechts / Zusammengestellt und systematisch geordnet von A. N. Makarov, Herausgegeben von W. Loewenfeld und Walther v. Simson, Berlin 1929 (Carl Heymannns Verlag)
[5] Benigna v. Krusenstjern: >>Daß es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben<<. Adam von Trott zu Solz. 1909-1944. Biographie. Göttingen, 2009 (Wallstein Verlag), S. 269
[6] Friedrich Glum: Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen, Bonn 1964, S. 402
[7] Siehe dazu auch: Margarete Gärtner, Botschafter des guten Willens, Bonn 1955, S. 163-164
[8] Gustav Brüning trat bei Übernahme der Kanzlerschaft aus der Vereinigung aus.
[9] nach: Kurzvortrag von Georg von Simson, gehalten am 17. August 2013 auf dem Jonas’schen Familientag in Göttingen, nur als Manuskript vorhanden.
[10] Der Sohn hat mir die Veröffentlichung der Mail gestattet.
[11] So in der Fußnote 38 in: Erik Wolf, Rechtstheologische Studien, Frankfurt am Main 1973 (Vittorio Klostermann Verlag),     S. 56
[12] Walther von Simson hat sich dazu auch in Kursen der BK ausbilden lassen. Er hat diesen Kurs mit Arthur Sello und dessen Frau Maria, sowie seiner Tante Margarete Wolff aus der Lindenthaler Allee 32 besucht. (EZA 7/195, Blatt 214)
[13] Hellmuth Linke, Wie es kam, war es gut, Gelnhausen 1983 (Triga Verlag), S. 10
[14] Die Briefe hat mir der Sohn von Dr. Walther von Simson in Auszügen zur Verfügung gestellt. (Prof. Dr. Georg von Simson, Göttingen)
[15] EZA 50/693, Blatt 185
[16] Laurenz Demps (Hg.), Luftangriffe auf Berlin, Die Berichte der Hauptluftschutzstelle 1940 – 1945, Berlin 2012 (Links    Verlag), S, 420+439
[17] ELAB 10909/2 Nr. 615
[18] Die Predigt hat mir der Sohn von Dr. Walther von Simson zur Verfügung gestellt.
[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Agape
[20] Valerie Riedesel, Geisterkinder, Fünf Geschwister in Himmlers Sippenhaft, Holzgerlingen 2017, S. 23ff
[21] Siehe dazu den Vortrag von Prof. Gerhard Ringshausen in Schlachtensee am 21.7.2017: Cäsar von Hofacker – Widerstand und Glauben
[22] http://de.wikipedia.org/wiki/Caesar_von_Hofacker
[23] http://www.spiegel.de/panorama/attentat-vom-20-juli-1944-blutrache-an-den-kindern-der-verschwoerer-a-307732.html